Per Definition ist ein Zentrum ein Mittelpunkt oder die Mitte. Es gewinnt oft an Bedeutung, während der periphere Raum in den Hintergrund rückt. Karrieretypen ziehen erst vom Dorf in die Metropole, um in der Stadt ihre beruflich ambitionierten Ziele zu erreichen und den Traum der Vorzeige-Kapitalisten zu verwirklichen. Muslime pilgern jährlich nach Mekka, die heilige Moschee und die Kaaba sind zentraler Walfahrtort der Gläubigen. Goethes Faust ist auf der Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammen hält“, verkauft für diese Erkenntnis sogar seine Seele. Die Gloriole über dem Zentrum, ein ikonisches Bild, das uns begleitet. Das Zentrum zeugt von einer ungewissen Strahl- und Anziehungskraft, ist übergeordnet und wichtig, und entfaltet seine Macht über die untergeordnete Peripherie, die minderwertiger und glanzlos sein soll. Doch wenn ein Zentrum nur dann seine prägende Kraft entfalten kann, wenn es von einem peripheren Raum als solches charakterisiert wird, wird dann nicht das komplette Gebilde und seine Sinnhaftigkeit in Frage gestellt?

Hochkulturen entwickelten sich nach Tenbruck aus primitiven Gesellschaften durch die Ausgliederung bestimmter Funktionen wie Herrschaft, Kriegsführung, Wirtschaft und Religion. Stämme und Dörfer verloren ihre Autarkie, die Stadt wurde zum Zentrum erhoben. Der Ursprung des jetzt vorherrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystems, ausgelegt auf Konsum, Wachstum und Gewinn.





Die Lohnarbeit steht im Zentrum, soziale Anerkennung, Ehre und Ruhm sind streng mit ihr gekoppelt. Arbeit ist nicht mehr nur Mittel zum Zweck, sie stiftet auch Identität. Was arbeitest du und in welcher Position? Arbeitslose werden schnell ins gesellschaftliche Aus katapultiert. Ständiger Druck und Versagensängste. Bist du einsatzbereit, bist du erreichbar? 51% der Arbeitnehmer:innen in Deutschland bewerten ihre Arbeit als (eher) stressig. Psychische Krankheiten wie Burn-out oder Depressionen am Arbeitsplatz nehmen zu. Alles für Geld.



Bist du schon kapitalistisch genug? Die ethischen Bedenken, die sich vielleicht gelegentlich ergeben, kannst du zum Frühstück mit etwas Moral-Müsli hinunter spülen. Antistressiva hilft dir beim Betäuben deiner gereizten Nerven. Und brauchst du manchmal etwas Bestätigung, dass der Lebensweg voller Geldgeilheit, Konsumgier, Lobbyismus und Ausbeutung, den du eingeschlagen hast, wirklich der Richtige ist, dann ist der Du-bist-der-King-Burger die perfekte Stärkung für dich.



Die Frage nach der Mitte der Gesellschaft ist eine essenziell prägende im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Parteien geben von sich, die Mitte zu sein, kündigen "Politik für die Mitte" an. Wo ist diese Mitte, wer ist sie und wodurch wird sie gefährdet?
Die Leipziger Mitte-Studien evaluieren regelmäßig die politische Gesinnung der Bürger:innen in Deutschland. 2021 veröffentlichen sie "Die geforderte Mitte". Gefordert durch Rassismus, Antisemitismus, Verschwörungstheorien, Medienmisstrauen und Klimaskepsis.


Flocking beschreibt das Bilden von Aggregationen von Fischen, Insekten oder Vögeln, die sich in der Masse als Kollektiv fortbewegen. Die einzelnen Individuen folgen der Bewegung des Vordermanns und zwar in der Geschwindigkeit der Lebewesen nebenan. Jede:r Partizipant:in ist somit zentraler Punkt zur Bildung des Schwarms, die Grenzen vom definierten Zentrum verschwimmen.
Die Komplexität mancher Phänomene führt dazu, dass die kleinsten Einflüsse unberechenbare und gigantische Konsequenzen. Laut der Chaostheorie kann ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings an einem Ort katastrophenartige Auswirkungen in anderen Ländern haben. Tornados, Gewitter, Regenfälle, ausgelöst durch ein winziges Element. Die Bewegung eines Insekts als Zentrum für peripheres Chaos.






Der Kaiser in Hofmannsthals Gedicht positioniert sich als selbsternannter Sohn des Himmels in die Mitte seines glorreichen Imperiums. Goethes Faust sucht nach der alles befriedigenden Erkenntnis. In Kafkas Werke spielen ebenfalls Figuren von Zentrum und Peripherie eine Rolle. Im „Prozess“ hat Josef K. ausschließlich mit den niedersten Beamten zu tun, das ominöse Gericht schwebt als drohende Instanz unerreichbar über ihm. Das „Schloss“ wird nie vom Protagonisten K. erreicht, die "kaiserliche Botschaft" erreicht nie den Empfänger. Der "Hungerkünstler" praktiziert seine Kunst in der Mitte der Manege, bis er an den Rand abgedrängt wird und stirbt. Im Gegensatz zu der Glorifizierung, die Zentren oft erfahren, schreibt Kafka von der Weitläufigkeit und Spannung der Peripherie und konzentriert sich mehr auf sie.



Narzissten sehen sich im Zentrum der Welt, ihr kollektives Selbstbewusstsein ist überschätzt und sie halten sich selbst für weniger entbehrlich als ihr Umfeld. Oft geht von ihnen eine manipulative Macht aus, die andere zwingt, sich unterzuordnen. Sogenanntes Gaslighting führt dazu, dass sich Opfer von narzisstischen Beziehungen selbst die Schuld für Schwierigkeiten innerhalb der Beziehung geben. Zurückzuführen ist der Begriff auf die von Ovid in den Metamorphosen erzählte Geschichte. Narziss weist alle, die ihre Vergötterung zu ihm bekunden, zurück. Zur Strafe erhält er die Bürde der unstillbaren Selbstliebe. Für immer den Blick auf sein eigenes Spiegelbild gerichtet, stirbt er und verwandelt sich in eine Narzisse.



Ich als Mensch bin neben meinem biologischen Erbgut, den Genen meiner Eltern, auch das Produkt der Erfahrungen, die ich im Leben machte, den Dingen, die mir widerfahren sind und den Menschen, die mich umgeben, mit denen ich Gespräche teile und Zeit verbringe. Der Grundgedanke, dass ich im Zentrum meiner Realität auch Ergebnis von peripher prägenden Eindrücken bin, ist mein persönliches Resümee.



1 Kommentar
Marcel
Ganz tolle Arbeit. Gerade das Porträt am Ende hat mich schwer Beeindruckt.